Es braucht Mut für das Selbstverständliche
«Ich bitte Sie in Gottes Namen um Erbarmen. Zurzeit fürchten Menschen um ihr Leben». So die eindringlichen Worte der Bischöfin von Washington, Mariann Edgar Budde, als sie dem neuen US-Präsidenten im Vereidigungs-Gottesdienst ins Gewissen redete. Der Mann hatte seiner Wählerschaft versprochen, illegale Migrantinnen und Migranten mit gnadenloser Härte abzuschieben, und Rechte für Minderheiten kurz und kleinzuhacken. Insbesondere betroffen sind Schwule, Lesben und Mitglieder der LGBTQ-Community.
Die Bischöfin wagte mit ihrem moralischen Appell etwas Unverschämtes: dem mächtigsten Mann des Landes gegenüberzutreten und Kritik zu üben.
Etwas eigentlich Selbstverständliches muss inzwischen mit Zivilcourage gleichgesetzt werden. Denn die radikal-rechtskonservative Trump-Regierung lässt kaum mehr ein politisches Gegengewicht zu, Widerstand zu leisten wird für Betroffene gefährlich. Nur Privilegierte wie die Bischöfin können sich Kritik noch leisten.
Das politische System der Schweiz verhindert eine solch einseitige Machtballung. Religiös, sexuell oder kulturell anders Orientierte haben ihre Rechte. Dank unserer ausgewogenen Parteienlandschaft wird unsere Wertevielfalt abgebildet. Und doch spüren wir auch hier eine Tendenz zu radikaleren Tönen. So werden Menschen, die politische Verantwortung übernehmen, in Sozialen Medien diffamiert oder, sobald ihr Weg nicht genehm ist, mit Rücktrittsforderungen bedroht. Den politischen Gegner unglaubwürdig zu machen, ist salonfähig geworden.
Die Schweiz ist keine Insel in einer Welt, wo sich populistisch gesteuerte Programme zuspitzen. Wir müssen nicht in die USA schauen, ein Blick über die Landesgrenze reicht: In Österreich und Italien haben die rechtsnationale FPÖ und Melonis postfaschistische Fratelli die Regierungen im Griff. In Deutschland und Frankreich tragen Parteien wie AfD und RN rücksichtslos zur Spaltung unserer demokratischen Werte und Gesellschaft bei.
Die Schweiz tut gut daran, sich vor einem solch vergifteten Klima zu schützen. Dazu können wir alle beitragen: Populistische Sprüche ignorieren und Respektlosigkeit anprangern. Manchmal braucht es Zivilcourage, jemandem ins Gesicht zu sagen, dass seine oder ihre Sprüche verletzend und verantwortungslos sind.
Die Bischöfin dürfte bereits im Vorfeld mit Konsequenzen für ihre öffentliche Kritik gerechnet haben. Wir können nur hoffen, dass sich ihre Kirche hinter sie stellt.
Christa Meier
Vorsteherin Departement Bau und Mobilität, Stadt Winterthur